Vergessen wir mal kurz einmal das Gendern in diesem Text. Es handelt sich um eine Gitarristin. Ohne Binnen I, ohne Sternchen und ohne Doppelpunkt. Eine echte, leibhaftige Frau also zwischen all den Tarregas, Sor’s und Carcassis der klassischen Gitarrenliteratur. Denn auch wenn die heutige Gitarrenszene ohne Frauen gar nicht vorstellbar ist, waren Gitarristinnen von überregionaler Bedeutung historisch lange Zeit eine Ausnahme. Komposition war Männersache! Frauen sorgten für die Kinder, das Essen und für etwas Hausmusik. Was für ein Verlust!
Die besondere Gitarrenkarriere der Madame Sidney Pratten
Catharina Josepha Pelzer, wie sie vor ihrer Heirat hieß, wurde 1824 in der Nähe von Köln geboren. Schon als kleines Kind wurde sie vom Vater unterrichtet und gab Konzerte. Ihr Talent war nicht zu übersehen. Sie wurde als „Wunderkind“ gehandelt. Als Catharina fünf Jahre alt war, zog sie mit ihrer Familie nach London. Ihr Vater versprach sich bessere berufliche Chancen in England.
1854 heiratete sie den Flötisten Robert Sidney Pratten und war dann als „Madame Sidney Pratten“ tätig. So weit ging die Emanzipation Mitte des 19. Jahrhunderts dann also doch nicht, dass berühmte Gitarristinnen unter eigenem Namen auftreten konnten.
Catharina Pratten: Multitalent mit Portfolio-Karriere
Gleich in mehrfacher Hinsicht war Catharina Pratten eine Ausnahmekünstlerin. Sie war konzertierende Musikerin, Komponistin und höchst anerkannte Musikpädagogin gleichzeitig. Sie entwickelte spezielle Gitarrenformen, die sie unter eigenem Namen vertrieb. Hannah Lindmaier vertritt in einem sehr lesenswerten Beitrag in der Zeitschrift „Üben und Musizieren“ eine schlüssige und faszinierende These. Mit der Vielseitigkeit, mit der Madame Sidney Pratten aufgestellt war, war sie bereits im 19. Jahrhundert wegweisen für eine heutige berufliche Existenz als Gitarrist: in. Heute, wo Festanstellungen für Musiker immer seltener werden, muss man schon auf mehreren Hochzeiten tanzen, Konzerte geben, unterrichten, publizieren, um ein gutes Auskommen zu haben. „Portfolio-Karrieren“ nennt Lindmaier das. Und Madame Sidney Pratten beschreibt sie als frühes Vorbild. Dabei ergänzten sich die verschiedenen „Geschäftsbereiche“ von Frau Pratten gut: Ihre Konzerttätigkeit diente dem Ruf als hochwertige Lehrerin. Ihre Kompositionen unterstützten den Unterricht. Ihre Bekanntheit nutzte dem Verkauf von Instrumenten.
Viel mehr als „nur“ Unterrichtsliteratur: Forgotten
Catharina Pratten komponierte eine Vielzahl von Präludien, Walzern, Airs, Märsche, Tänze und andere Stücke für Gitarre. Einige Kompositionen sind in ihren Gitarrenlehrbüchern enthalten. Bekannte Stücke sind die Variationen über „Karneval von Venedig“ für verschiedene Instrumente und die Stücke „Sadness“ und „Forgotten“ für Gitarre.
In der Komposition „Forgotten“ kann man die Ästhetik der Kammermusik der Klassik noch heraushören. Die Melodieführung und die Interpretationsmöglichkeiten spiegeln jedoch die beginnende Romantik wider. Und zugleich ist das Stück der gelungene Gegenbeweis dafür, dass Madame Pratten weit mehr komponiert hat als „nur“ Literatur für ihre Schüler:innen.
Linktipps und Literatur:
Heike Matthiesens Seite über Madame Sidney Pratten:
https://madame-sidney-pratten.jimdosite.com/
Hanna Lindenmaier in Üben und Musizieren:
https://uebenundmusizieren.de/artikel/a-skilful-teacher-madame-sidney-pratten/
Sophie Drinker Institut:
https://www.sophie-drinker-institut.de/pelzer-catharina-josepha
Archiv Frau und Musik:
https://www.archiv-frau-musik.de/