Michael Hedges ist einer der Gitarristen, bei dem sich die Linien der Entwicklung der Gitarrenmusik in besonderer Weise kreuzen. Dabei sind seine revolutionären Impulse zur Spieltechnik eher eine Art Nebenprodukt. Anders als beispielsweise Caspar Sanz, Fernando Sor oder Francisco Tarrega wollte er keine neue Anleitung für das „richtige“ Gitarrenspiel schaffen. Er wollte einfach gute Musik machen und hat dafür alle Möglichkeiten der Gitarre ausgenutzt.
„Meine Spieltechnik ist wegen der Musik entstanden. Wenn ein Ton auf einer Saite nicht erreichbar ist, dann stimme ich eben um.“ sagt er. Hedges sah sich weniger als Gitarrist, der auch komponiert, sondern vielmehr als Komponisten, der Gitarre spielt.
Seltsame Gegensätze? Keine Grenzen!
Da ist also jemand, der für die akustische Gitarre völlig neue Türen aufgestoßen hat, sich aber nicht in erster Linie als Gitarrist empfindet? Dieser seltsame Gegensatz erscheint mit einem Blick auf das musikalische Leben von Michael Hedges allerdings fast logisch.
Michael wurde am Neujahrsabend 1953 geboren. Schon früh entdeckte er seine Liebe zur Musik. Er nahm Cello-, Klavier- und Klarinettenunterricht. Musikalisch beeinflusst von Elvis und den Beatles und kam er zur Gitarre und spielte in seiner Jugend in Rockbands. Zur Flöte kam er durch seine Faszination für Ian Anderson, dem Sänger und Flötisten von „Jethro Tull“. Hedges Lebenslauf liest sich, als ob er Musik ohne innere Festlegung auf einen Stil in sich aufgesogen hat. Denn es folgte eine heftige Liaison mit der Folk-Rock-Musikszene. Joni Mitchell, Crosby, Stills & Nash und Neil Young waren die neuen Helden. Da alle alternative Gitarrenstimmungen verwendeten, experimentierte auch Michael ungewöhnlichen Stimmungen und erforschte für sich unkonventionelle Gitarrentechniken.
Michael studierte klassische Gitarre und Komposition und setzte sich stark mit elektronischer Musik auseinander.
Er hörte Musik beispielsweise von Pat Metheny und Ralph Towner, genauso aber auch klassische Komponisten wie Stravinsky, Webern und Reich. Eine besondere Rolle spielte jedoch Leo Kottke, mit dem er später auch auf Tour ging. Der Plattenkauf von Kottkes „6 & 12 String Guitar“ war eine Offenbarung: „Danach war ich nie mehr der gleiche. Ich fing an zu schreiben, und mir wurde klar, dass man leben und ganze Platten machen konnte, mit einer Stahlsaitengitarre.“ sagte er. Kottkes Stücke klangen wie moderne Kompositionen abseits ausgetretener Folk-Pfade.
So wurde Michael Hedges in seiner Person zu einer Art „Schmelztiegel“ verschiedener Einflüsse. Daraus wiederum entstand ein gewaltiger spieltechnischer und musikalischer Fortschritt für die akustische Gitarrenmusik.
Der mit der Gitarre spricht: Spieltechnik und Musik
Unter anderem durch Leo Kottkes bahnbrechendes Fingerpicking hat das Solospiel auf der Gitarre eine besondere, dominantere Rhythmik hinzugewonnen. Michael Hedges hat dies durch perkussive Elemente deutlich erweitert. Durch Anschlagen auf den Gitarrenkörper, Tapping, Hammerings und Pull-Offs sind völlig neue Klangwelten entstanden. Nicht zu vergessen, wie er Flageoletts mit „Slap Harmonics“ erzeugt hat.
„Das macht heute doch fast jeder!“ möchtest Du als Leser vielleicht einwenden. Stimmt, aber Hedges war eben der Erste der diese Elemente so einzigartig zusammengebracht, und durch klassische Techniken ergänzt hat.
Als Komponist ließ sich Hedges nicht von den bekannten Möglichkeiten der Gitarre begrenzen. Er erweiterte sie einfach. Klar, dass er Standarttunings wohl auch für überbewertet hielt. Auf der Seite https://michaelhedges.com/tunings/ findet man die verwendeten Tunings seiner Kompositionen. Was man nicht findet, ist E A D g h e 🙂
Türen auf für Nachfolger
Michael Hedges hatte riesigen Einfluss auf die viele Gitarristinnen und Gitarristen nach ihm. Andy McKee schreibt beispielsweise, nachdem er „Because It’s There“ gehört hatte: „Ich dachte: Das klingt unglaublich! Also ging ich los und kaufte alle Alben, die ich finden konnte. Ich besorgte mir Taproot und Live on the Double Planet und kurz darauf Aerial Boundaries – und damit war mein Schicksal besiegelt, denke ich.“ Und weiter sagt er: „Ich meine, als Gitarrist war ich natürlich fasziniert von der Frage: Was macht er? Wie ist dieser Typ?‘ Aber gleichzeitig fühlte ich mich auch emotional mit seiner Musik verbunden. Er hatte ein so kreatives und brillantes Gespür für Komposition, und er wusste, wie man mit der Gitarre spricht.“
Natürlich haben die meisten Gitarristinnen und Gitarristen nach Hedges ihre eigene Sprache und ihren eigenen Stil gefunden. Die Techniken und die Inspiration beziehen sich häufig jedoch auf Michael Hedges. Er hat die Türen aufgestoßen!
Der Mann in den Wolken
Das Album „Aerial Boundaries“ war Hedges größter kommerzieller Erfolg. Obwohl sein Label Windham Hill auf ein „Aerial Boundaries 2“ drängte, ist er andere Wege, mit anderen Instrumenten, anderem Songwriting gegangen. Das Album enthält eine musikalische Verbeugung zu Pierre Bensusan und eine wunderschöne Interpretation des Neil Young Songs „After the Gold Rusch“ auf der Michael Manring einen fretless Bass spielt und Hedges fast bescheiden zurückhaltend begleitet. In den Kompositionen „Ragamuffin“ und dem Titelstück des Albums „Aerial Boundaries“ zeigen sich Technik, Spielstil und überbordende Musikalität auf besonders faszinierende Weise.
So bewegen sich Stück und Album grenzenlos zwischen virtuosem, kraftvollen und minimalistischem Spiel. Abwechselnd eindringlich, tranceartig und verrückt.
Michael Hedges ist 1997 im Alter von 43 Jahren bei einem Autounfall gestorben.